Freitag, 10. März 2017

Schmerzkekse einst und jetzt


Bevor man einmal mehr den baldigst dräuenden Weltuntergang qua allgemeiner Verrohung der Sitten ausruft, kann ein Blick in die eigene Vergangenheit zuweilen hilfreich sein. Man verdrängt da gern so einiges. Etwa wie wir uns damals immer, wenn irgendwo etwas Schreckliches passiert war, zu einer Gruppe von Scherzkeksen formierten, in der darum gewetteifert wurde, wer den härtesten, geschmacklosesten Spruch, den makabersten Witz über das traurige Ereignis draufhatte. Wir waren begeisterte Leser des seinerzeit von Herbert Feuerstein herausgegebenen MAD Magazins und hatten gelernt, dass man besser durch seine Jugend kommt, wenn man nichts und niemanden ernst nimmt. Paar Beispiele gefällig? Von mir aus (nicht, dass es heißt, es sei nicht gewarnt worden):

  • Wie viele waren am 29.5.1985 im Brüsseler Heysel-Stadion? - 60.000 und ein paar Zerquetschte. 
  • Was war als letzter Funkspruch des Space Shuttle Challenger zu hören? - "So Jungs, jetzt lasst mal die Frau ans Steuer!"
  • Welches ist die härteste Rallye der Welt? Im Imbisswagen durch Äthiopien.

Etzetera, you get the picture. Ich muss nicht weitermachen, denke ich. Der Kram halt, über den man nicht lauthals lacht, sondern allenfalls hinter vorgehaltener Hand "Chochochochocho!" macht.

(Hinzu kamen übrigens noch die üblichen Witze über alle möglichen Minderheiten, wenn gerade mal nichts Schlimmes passiert war.)

Überflüssig zu sagen, dass ich volles Verständnis für alle habe, die das überhaupt nicht witzig finden. Ich kann auch nicht behaupten, stolz darauf zu sein. Die Witzeleien rissen wir im kleinen Kreise, ein wenig abseits. Niemand von uns hätte sich auf eine Bühne gestellt damit, denn wir wussten natürlich, das gehörte sich nicht wirklich. Und natürlich wussten wir auch, dass das, auf das unsere Sprüche da abzielten, in Wahrheit alles andere als lustig war. Ich würde rückblickend niemanden, der dabei mitmachte, als herzenskalten, unempathischen Klotz bezeichnen, im Gegenteil. Vermutlich war das für uns ein Mittel, den Schrecken nicht allzu nah an uns heranzulassen, damit umzugehen. Dampf abzulassen, indem wir einen auf abgebrüht machten. Eben weil wir noch nicht erwachsen waren. Und ja, sicher auch, um ein wenig zu schocken, kleiner Tabubruch am Rande, so als adoleszentes Aufbegehren. War bei unserer Elterngeneration nämlich deutlich schwerer als bei der davor.

Jetzt ist in Herne eine ausgesprochen schlimme Sache passiert. Ein möglicherweise verwirrter junger Mensch hat nach eigenem Bekunden einen noch jüngeren Menschen getötet und wohl noch einen weiteren auf dem Gewissen. Motiv? Man weiß es nicht genau, vermutlich aber einfach so, weil er's konnte. Was machen also ein paar Verbalrabauken? Sie klopfen auf dem abseitigen Board 4chan ein paar lockere, bewusst coole Sprüche über das Geschehene und machen dabei den Eindruck, mit dem Hackebeil auf die Welt gekommen zu sein. Nur dass die Lümmel von der letzten Bank das heute nicht im kleinen Kreise machen und vielleicht nur ein paar Umstehende provozieren damit, sondern dank sozialer Netze in aller Öffentlichkeit. Das ist der Unterschied. Reaktion: Empörung! Kranke Scheiße! Verbieten!

Ich würde sagen, wir waren schlimmer (4chan via stern.de)
Man kann ja gern streiten, inwieweit verbale Gewalt, die man keineswegs per se als harmlos abtun sollte, zu tolerieren ist. Ich bin auch nicht sicher, ob man Spasti-Sprüche unbedingt mit einem Grimme-Preis adeln muss. Definitiv aber war früher nicht alles besser, nur anders. Wenn ich bedenke, was unsereins damals für Sprüche abgelassen hat über schlimme Dinge und über psychische Defizite von Lehrern und Mitschülern sowie physische Vor- und Nachteile von Mitschülerinnen auf Tische, Klotüren und Bänke geschmiert hat, dann bin im Nachhinein schon ganz froh, ohne den ganzen Sozialen Medienklimbim aufgewachsen zu sein. Wäre das alles nämlich nicht dem gnädigen Vergessen und der Diskretion anheim gefallen, sondern auf diesen virtuellen Litfasssäulen gelandet, wir wären unseres Lebens vermutlich nicht mehr froh geworden.

Ob das ein zivilisatorischer Fortschritt ist oder nicht, mag jeder gern selbst mit sich ausmachen.


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