Donnerstag, 22. September 2016

Zeigt her eure Befunde!


"If you need a role model you are a dick." (Charlie Brooker)

In den USA und in Österreich scheint man uns in einem Punkt definitiv voraus zu sein. Dort hat man neuerdings die Gesundheit amtierender bzw. ein Amt anstrebender Politiker als politische Größe entdeckt. Hillary Clintons Schwächeanfall und die Nachricht von ihrer Lungenentzündung nutzte ihr Rivale Donald Trump in gewohnter Weise dazu, zu beweisen, dass er nicht nur der Präsidentschaftskandidat mit dem monströsesten ökonomischen Sachverstand, den schlichtesten Lösungen und dem Längsten aller Zeiten ist, sondern auch der allergesündeste von allen. Auf die naheliegende Idee, dass eine Ochsentour wie ein Wahlkampf inklusive Vorwahlkämpfe einem Menschen von Ende sechzig schon mal an die Kraft gehen kann und so jemand sich dann halt mal was wegholt, kommt freilich keiner mehr. Nein, wer die mächtigste Militärmacht der Welt regieren will, hat gefälligst in jeder Hinsicht perfekt zu sein. Man muss weiß Gott kein Anhänger Hillary Clintons sein, um diese Entwicklung bedenklich zu finden.

Gut, man könnte hier genderbedingten Unrat wittern und fragen, ob ein männlicher Kandidat, der in ähnlicher Weise Schwäche gezeigt hätte wie Clinton, man ihn in ähnlicher Weise angegangen und ob dessen gesundheitliche Eignung auch so angezweifelt worden wäre wie bei ihr. Dass das wohl unwahrscheinlich ist, zeigt ein Blick nach Österreich:

Alexander van der Bellen, seines Zeichens Kandidat für das österreichische Bundespräsidentenamt und bekennender Raucher, sah sich vor einigen Wochen mit wohl aus dem Umkreis der Dreckschleuder PI-News lancierten Gerüchten konfrontiert, er litte an Lungenkrebs. Woraufhin van der Bellen nicht etwa einen Vogel zeigte und seiner Wege ging, sondern sich genötigt sah, ärztliche Befunde, die ihm beste Gesundheit bescheinigen, öffentlich zu machen. Sicher, man hätte auch die naheliegende Frage aufwerfen können, wieso ein Krebskranker von über siebzig Jahren nichts besseres zu tun haben sollte als sich ohne jede Not die Strapaze des Präsidentenamtes anzutun. Aber das wäre in diesen überhitzten Zeiten wohl ein wenig zu viel Vernunft auf einmal. So ging die Geschichte noch weiter: Aus Spaß und als Retourkutsche forderte 'Falter'-Chefredakteur Florian Klenk den FPÖ-Vorsitzenden Heinz Christian Strache zum Drogentest auf. Und, was machte der? Sagte nicht etwa, dass er sich zum Teufel scheren sollte, sondern ließ brav Haare und veröffentlichte das Ergebnis. Willkommen im Zeitalter von Post Privacy.

Es hilft nichts, wer in Zukunft ein politisches Amt anstrebt, wird wohl seinen Arzt von der Schweigepflicht entbinden müssen. Es reicht offenbar nicht mehr, für ein Amt geeignet zu sein. Es ist eine Sache, sich 'gesundheitsbewusst' zu schimpfen und das eigene Leben, den eigenen Körper einem drakonischen Hygiene- und Gesundheitsregiment zu unterwerfen (das in den meisten Fällen übrigens auf wissenschaftlichen Erkenntnissen von erschreckender Vorläufigkeit beruht). Etwas anderes ist es, von Regierenden das gleiche zu erwarten. Was darf es als nächstes sein? Müssen Aspiranten auf Ämter dereinst ihre Trainingspläne ins Netz stellen und sich beim täglichen Joggen filmen lassen? Nachweisen, dass sie immer brav ihre drei Liter Wasser am Tag süppeln? Bilder ihres Stuhlgangs bei Facebook posten? ("Also ein ehrenamtlicher Bürgermeister mit Dünnschiss würde mir schon irgendwie Angst machen...") Dürfen wir uns demnächst auf live im Fernsehen übertragene Darmspiegelungen freuen? Entsprechende Ansätze sind ja schon länger zu beobachten.

Ist es überzogen, wenn ich frage, ob ich der einzige bin, dem solche Übergriffigkeit gewaltig auf den Senkel geht? Keimt da nur in mir der Verdacht, da projizierten welche, allem ostentativ vorgetragenen Atheismus zum Trotze, quasi religiöse Heilserwartungen in ihre Regierenden? Finde nur ich, dass Leute, die glauben, ein Anrecht auf solche Informationen zu haben, ein totalitäres, zumindest aber vormodernes Verständnis von Demokratie Gassi führen? Lag nicht das Moderne von Demokratie einmal darin, Regieren als etwas eher Geschäftsmäßiges zu verstehen? Darin, zwischen Amt und Person zu unterscheiden, von Amtsträgern im Prinzip nicht mehr zu verlangen als vom übrigen Volke? War nicht gerade die prinzipielle Austauschbarkeit von Regierenden der große Fortschritt? Weil dadurch, anders als bei lebenslang regierenden Monarchen, die Frage nach Gesundheit und Krankheit eher zweitrangig wurde und somit nicht mehr zur Frage von Wohl und Wehe des ganzen Staates werden konnte?

Wie gut das lange Zeit funktionierte, zeigt ein Blick darauf, was allein im 20. Jahrhundert so zusammenkommt an gesundheitlich teils schwer Angeschlagenen in Top-Positionen. Winston Churchill war ein schwerer Trinker mit heftigem Übergewicht und Hang zu depressiven Schüben. Franklin D. Roosevelt litt an Polio, weshalb auf Fotos immer alle anderen auch sitzen mussten. John F. Kennedy war schwerst tablettenabhängig, weil er sich gegen seine Rückenschmerzen alles einpfiff, was knallte und zeigte ansonsten - apropos knallen - alle Symptome einer schweren Sexsucht. Der kettenrauchende und dem Alkohol zeitweise gehörig zusprechende Willy Brandt fiel wegen seiner Depressionen manchmal wochenlang aus, und über die Blutwerte des gewichtigen Gourmands Helmut Kohl sollte man lieber nicht spekulieren. Ferner sollte man vielleicht noch erwähnen, dass letzterer sich ab September 1989 - ja, 1989 - wiederholt wegen Prostatakrebs in Behandlung befand (was offiziell als Grippe ausgegeben wurde) und niemand deswegen den Untergang des Abendlandes herbeiunkte.

Nicht genug damit, dass die genannten, außer Roosevelt und Kennedy, trotz ihres Lebenswandels ein recht hohes Alter erreichten (Kohl ist ja noch dabei), nein, keiner von ihnen hätte heutzutage vermutlich nur den Hauch einer Chance, ins Amt zu kommen (ob das im einzelnen gut oder schlecht ist, mag jeder selbst mit sich ausmachen). Richtig dumm ist natürlich, dass einer der größten Gesundheitsapostel unter den Potentaten des 20. Jahrhunderts bekennender Vegetarier, Nichtraucher und Antialkoholiker war und auf den Namen Adolf Hitler hörte. Ein echter Trendsetter, wie es aussieht.

Das alles könnte man ja noch verstehen, wenn inquisitorische Schnüffelei in ärztlichen Befunden zu irgendetwas nütze wäre. Ist sie nur nicht. Dergleichen bringt niemanden weiter, außer den PR-Menschen, die das aushecken, und den Voyeuren, die das allen Ernstes für relevant halten und sich die Mäuler zerreißen.

Selbstoptimierer mögen den Gedanken unerträglich finden, aber es ist völlig gaga, vom tatsächlichen oder imaginierten Gesundheitszustand eines Politikers zum Zeitpunkt der Wahl auf dessen spätere Amtsführung schließen zu wollen. Studien haben es letztens wieder ergeben: Ob etwa jemand Krebs bekommt oder nicht, ist, von Ausnahmen abgesehen, im wesentlichen Zufall. Korrelationen mit Lebensgewohnheiten sind in der Regel so minimal, dass sie statistisch kaum ins Gewicht fallen.

Ein Kandidat, der zum Zeitpunkt seiner Wahl das blühende Leben in Person ist, kann kurz darauf ein Wrack sein. Auch den eifrigsten Jogger kann jederzeit ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt auf die Bretter schicken. Guido Westerwelle, den eine aggressive Leukämieerkrankung dahinraffte, lebte, nach allem, was bekannt war, höchst gesund. Ein einziger unglücklicher Sturz beim Sporteln kann's gewesen sein, wie das Beispiel Michael Schumacher zeigt. Der ist zwar kein Politiker, aber man wird ihm nachsagen dürfen, ein Leben lang topfit gewesen zu sein.

Man könnte es als Schnurre abtun, dass Politiker sich neuerdings bemüßigt fühlen, ihre Gesundheit öffentlich zu dokumentieren. Nur kann man das auch als ziemlich sicheres Anzeichen begreifen für den fortschreitenden Übergang von der liberalen Demokratie in Richtung autoritärer Obrigkeitsstaat und charismatische Herrschaft. Wer den Menschen verkaufen will, die einzige und letzte Rettung, die Antwort auf wirklich alle Probleme zu sein, hat es nötig, sich als in jeder Hinsicht perfekt zu inszenieren. Natürlich kann man nach der Mitschuld von Politik und Medien an dieser Entwicklung fragen, wie die Art, wie sie sich inszenierten, nunmehr auf sie selbst zurückfiele.

Nur gehören zum Tango tanzen bekanntlich immer zwei. Daher sei, wer ernsthaft fordert, Regierende hätten gefälligst auch Vorbilder zu sein, einen entsprechenden Lebenswandel zu führen, immer topgesund zu sein und darüber auch noch Rechenschaft abzulegen, hiermit freundlichst auf den Beginn dieses Beitrags verwiesen. Ganz oben, zwischen Überschrift und erstem Absatz.



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